I. Anwaltstätikeit der Gegenwart - Einleitung
Das historische Bild des Rechtsanwalts, das sich bis in die Gegenwart in den Schwerpunkten der juristischen Ausbildung spiegelt, ist das eines in starkem Maße forensisch tätigen Rechtsanwalts. Dies mag auch darauf beruhen, dass die gerichtliche Tätigkeit zu jener Zeit, als sich in Europa der Anwaltsberuf als juristische Profession entwickelte, die Domäne der Prokuratoren als einer Art gehobenem Anwaltsstand war, während das Anwaltsgeschäft im Übrigen den weniger angesehenen Advokaten überlassen war. Zwar ist diese Zweiteilung in Deutschland, im Gegensatz zu anderen europäischen Rechtsordnungen, seit Langem überwunden, gleichwohl ist sie mit ein Grund dafür, warum die anwaltliche Tätigkeit in starkem Maße mit gerichtlichem Tätigwerden assoziiert wird. Über Jahrzehnte kontinuierlich zunehmende Anwaltszahlen einerseits und seit rund 20 Jahren zum Teil stark rückläufige Eingangszahlen in den meisten Gerichtsbarkeiten andererseits belegen freilich, dass der Rechtsdienstleistungsmarkt zwar wächst, die gerichtliche Tätigkeit aber zwangsläufig an Bedeutung verliert. Wachstum findet statt im Bereich der vorsorgenden und gestaltenden Rechtspflege, aber auch im Bereich der alternativen Konfliktlösungsmechanismen – nicht ausschließlich durch eine Abkehr von staatlichen Gerichten und einer Hinwendung hin zu privaten Schiedsgerichten, sondern auch und insbesondere hin zu konsensualen Konfliktlösungsmechanismen.
Ein Anliegen der Studie „Anwaltstätigkeit der Gegenwart“ 1 war daher die Klärung, in welchem Umfang Rechtsanwälte in den drei großen anwaltlichen Tätigkeitsfeldern „Beratung einschließlich Vertragsgestaltung und Begutachtung“, „außergerichtliche Vertretung“ und „gerichtliche Vertretung“ tätig sind. Ergänzend gefragt wurde auch nach der Bedeutung der Tätigkeit in der alternativen Konfliktbeilegung sowie die Relevanz sonstiger Betätigungen, deren Inhalt im Rahmen einer offenen Antwortmöglichkeit näher spezifiziert werden konnte. Gefragt wurde hierbei nach den Arbeitszeitanteilen, die auf diese fünf Kategorien entfallen, um ein Gefühl zu gewinnen, wie sich die fachliche Tätigkeit von Rechtsanwälten auf verschiedene Tätigkeitsfelder verteilt. Entsprechende Erkenntnisse erlauben unter anderem eine Einschätzung, inwieweit die Ausbildung von Nachwuchsanwälten mit den Inhalten der späteren Berufstätigkeit in Deckung ist.
II. Gesamtbetrachtung
Lediglich 26 Prozent ihrer Arbeitszeit verwenden Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte in der Gegenwart auf Mandate, deren Gegenstand die Prozessvertretung ist. Bei lediglich 8 Prozent der Rechtsanwälte nehmen forensische Mandate mehr als die Hälfte der Arbeitszeit ein, bei 21 Prozent beansprucht dieses Tätigkeitsfeld maximal 10 Prozent der Arbeitszeit. 9 Prozent der Rechtsanwälte geben an, überhaupt keine forensischen Mandate zu bearbeiten.
Mit 35 Prozent fließt die meiste Arbeitszeit in Mandate, in denen es um die Beratung von Mandanten, die Begutachtung von Rechtsfragen oder die Vertragsgestaltung geht – also in Tätigkeiten, in denen der Rechtsanwalt rein intern für seinen Mandanten und nicht als dessen Bevollmächtigter gegenüber einem Dritten tätig wird. Bei 19 Prozent der Befragten nimmt diese Beratungstätigkeit mehr als die Hälfte ihres Berufsalltags ein, bei 17 Prozent weniger als 10 Prozent.
Mit 33 Prozent fast ebenso umfangreich ist das zeitliche Investment in Mandate, in denen der Rechtsanwalt den Mandanten gegenüber einem Dritten außergerichtlich vertritt. Mit 53 Prozent bei mehr als der Hälfte der Anwälte hat diese Tätigkeit einen Anteil von 26 bis 50 Prozent der Tätigkeit.