European Lawyers for Lesvos

„Man hat nie das Gefühl, fertig zu sein“

eine Luftaufnahme einer Stadt auf Lesbos, Griechenland
Luftaufnahme des Flüchtlingslagers Moria auf der griechischen Insel Lesbos.

Ein anwaltlicher Rettungsdienst für Flüchtlinge? Diese Idee haben der Deutsche Anwaltverein und der Rat der Europäischen Anwaltschaften (CCBE) 2016 auf Lesbos verwirklicht. Nun ist das Projekt flügge geworden – und könnte Kreise ziehen.

Kurz vor dem Wintereinbruch sammeln sich wieder Zelte zwischen den Containern der europäischen Behörden und Hilfsorganisationen – notdürftig geflickte Planen auf Metallstangen, die in den blauen Himmel ragen. Im September diesen Jahres sind über 2.000 Flüchtlinge auf der griechischen Insel Lesbos gestrandet, mehr als doppelt so viele wie im Jahr zuvor. Das Aufnahmelager in Moria ist für etwa 2.000 Menschen ausgelegt. Im Oktober lebten dort über 5.000. Die meisten von ihnen sind Familien mit Kindern.

Die Passauer Asyl- und Migrationsrechtsanwältin Maria Kalin, 33 Jahre, ist besorgt. „Im Frühjahr sah alles danach aus, als habe sich die Situation in Moria entspannt. Zelte wurden durch Container ersetzt, Familien wurden außerhalb des Lagers untergebracht“, sagt sie. „Jetzt ist das Aufnahme-Camp wieder voll mit Kindern – aber es gibt hier keine Betreuung mehr für sie und die Rechtswege haben sich enorm verlangsamt.“

Kalin hat ihren Urlaub geopfert, um Asylsuchende in Moria vor ihrem Interview über ihre rechtliche Situation aufzuklären und zu helfen, Familien zusammenzuführen. Sie ist eine von 81 Freiwilligen aus ganz Europa, die seit dem Start des Pro-bono-Projekts „European Lawyers for Lesvos“ im August 2016 Geflüchtete beraten – in einem 4-Raum-Container mitten im Lager. Vor einem Jahr hat sie schon einmal für „European Lawyers for Lesvos“ volontiert. Damals ging es noch um die Frage, wie die Freiwilligen die Anwälte vor Ort am besten unterstützen könnten. Das Projekt, finanziert von diversen europäischen Anwaltschaften, war ursprünglich für ein Jahr geplant und sollte vor allem ein Zeichen setzen: Auch Rechtsrat gehört zur humanitären Hilfe. Europa kann die Anwälte an den EU-Außengrenzen nicht alleine lassen. Jetzt steht „European Lawyers for Lesvos“ auf eigenen Beinen: Aus dem Projekt ist eine Organisation geworden.

Das Aufnahmelager Moria: Hotspot für ein Rechtsproblem

Die Idee für das Projekt hatte DAV-Hauptgeschäftsführer Dr. Cord Brügmann. Während des Jahreswechsels 2015/16, als an manchen Tagen bis zu 3.000 Menschen auf Lesbos strandeten, half er als Freiwilliger in der privaten Hilfsorganisation „Better days for Moria“ – und bemerkte bei seinem zweiten Hilfseinsatz im März 2016, wie verunsichert die Menschen über ihre rechtliche Situation sind. „Gerade nach dem Abkommen zwischen der Türkei und der EU im März 2016 fühlten sich viele Flüchtlinge hilflos“, sagt er. „Individueller Rechtsrat war nicht vorgesehen, von anwaltlichem Rat ganz zu schweigen.“ Gleichzeitig hat er erlebt, wie andere Berufsgruppen wie Ärzte oder Handwerker an den Hotspot Lesbos reisten, um mit ihren Fähigkeiten erste Hilfe zu leisten.

Laut den gemeinsamen Mindeststandards der Europäischen Union hat jeder Asylsuchende zu jedem Zeitpunkt Recht darauf, einen Anwalt zu konsultieren. Aber die griechischen Anwältinnen und Anwälte sind mit dieser Aufgabe vollkommen überlastet. Sie kommen meist erst dann ins Spiel, wenn Flüchtlinge bereits abgelehnt wurden. Das brachte Brügmann auf die Idee einer rechtlichen Erstberatung. Als der DAV-Präsident Ulrich Schellenberg auf einer Konferenz in Wien seinen europäischen Kolleginnen und Kollegen die Idee vorstellte, war der Zuspruch groß: Die europäische Dachorganisation, der Europäische Rat der Anwaltschaften (CCBE), war spontan bereit, das Projekt ein Jahr lang mitzutragen. In dem britischen Anwalt Phil Worthington, der zu diesem Zeitpunkt als Freiwilliger für die Hilfsorganisation „Better days for Moria“ auf Lesbos arbeitete, fanden DAV und CCBE einen Koordinator. Sie vereinbarten mit der griechischen Regierung ein Memorandum, das den europäischen Anwältinnen und Anwälten den Zugang zum Camp sicherte. Und im August war es so weit: „European Lawyers for Lesvos“ startete seine Arbeit.

Phil Worthington, nun Geschäftsführer der gGmbH, hat im Laufe des letzten Jahres erfahren, wie wichtig unabhängiger Rechtsrat für Asylsuchende ist: „Man kann leicht Fehler machen, wenn man den Anerkennungsprozess und die Kriterien der Flüchtlingskonvention nicht kennt“, sagt er. Deshalb sei es für die Menschen essentiell, bereits vor ihrem Interview Zugang zu einem Anwalt zu haben. „Wir versuchen, sicherzustellen, dass der Rechtsstaat in Moria funktioniert.“

Reagierten die in Moria etablierten Hilfsorganisationen anfangs mit Skepsis auf die europäischen Anwältinnen und Anwälte, hätten diese innerhalb kurzer Zeit gute Beziehungen zu allen Akteuren im Aufnahmelager entwickelt, erklärt Worthington. Dazu habe in erster Linie Chrysoula Archontaki beigetragen, eine kretische Anwältin, die als eine der ersten Freiwilligen für das Projekt arbeitete und daraufhin alle zwei Monate zurückkam. Seit Februar arbeitet sie fest für „European Lawyers for Lesvos“. Die Europarechts-Absolventin betreut die Freiwilligen und begleitet sie im Camp.

„Die Asylsuchenden haben meist keine Papiere bei sich und keine Ahnung von deren Bedeutung. Sie haben den Kopf nicht frei, sich damit auseinanderzusetzen“, erklärt Archontaki. „Um zu ihrem Ehepartner nach Deutschland oder Frankreich ziehen zu können, brauchen sie aber Beweise.“ Das müsse man den Menschen zunächst erklären. „Wir helfen den Asylsuchenden, ihre Verwandten am Telefon zu erreichen und sich zum Beispiel Fotos von der Hochzeit und der Familie schicken zu lassen.“

Meistens gehe es um die Interviewvorbereitung. „Wir müssen die Fluchtgeschichte aus jedem einzelnen Menschen herauskitzeln“, erzählt Archontaki. „Viele schämen sich und wollen zum Beispiel verbergen, dass sie homosexuell sind. Sie fürchten, dass sie im Lager an den Rand gedrängt werden. Für das Asylinterview sind Informationen wie diese aber entscheidend.“ Schritt für Schritt müssen die europäischen Anwälte Vertrauen zu den Flüchtlingen aufbauen und ihnen erklären, dass die Gespräche mit ihnen und den europäischen Behörden vertraulich sind. „Viele Asylsuchende sind an Vertraulichkeit überhaupt nicht gewohnt.“

Chrysoula Archontaki kam zum ersten Mal nach Lesbos, weil sie sich für die Idee eines Freiwilligenprojekts für Anwälte interessierte. Sie ist im Migrationsund Asylrecht zu Hause und wollte erfahren, wie es den Menschen, deren Fälle sie am Schreibtisch bearbeitet, in den Flüchtlingslagern ergeht. Heute sagt sie: „Ich denke, dass das Projekt der Start von etwas wirklich Bedeutendem ist: einer Art anwaltlichem Rettungsdienst.“ Das Verhältnis zu den Mandanten im Camp sei ein ganz anderes als im Büro. Veränderungen sehe man sofort. „Aber man hat nie das Gefühl, fertig zu sein“, sagt sie.

Wie geht man damit um? Die Passauer Anwältin Maria Kalin erzählt von Momenten, in denen sie beschämt ist, oder frustriert. Wenn Familien trotz Beweisen nicht zusammengeführt werden, weil der politische Wille fehlt. „Mein Glauben an den Rechtsstaat ist ins Wanken gekommen“, sagt sie. „Aber die Erfahrungen in Moria helfen mir, die Situation meiner Mandanten besser zu verstehen.“ Der größte Gewinn, so Kalin, sei die Zusammenarbeit mit den Anwältinnen und Anwälten aus ganz Europa: „Ich habe hier tolle Leute kennengelernt.“

Der Geschäftsführer Phil Worthington spricht von einem „Pro-bono-Geist“ unter den Freiwilligen und von einer Solidarität, die die Anwältinnen und Anwälte aus ganz Europa bewiesen hätten – entgegen jeglicher Klischees, mit denen Anwälte häufig konfrontiert würden. Insgesamt haben sich 450 Personen aus ganz Europa für das Freiwilligenprojekt beworben. „Das zeigt, dass es unter Anwälten den Wunsch gibt, ihre Qualifikation und ihre Fähigkeiten für einen guten Zweck einzusetzen“, sagt Worthington.

Worthington ist überzeugt, dass der Erfolg von „European Lawyers for Lesvos“ auf dem Engagement jedes und jeder einzelnen Freiwilligen fußt. Deshalb schickt er den angehenden Freiwilligen ein Handbuch mit ersten rechtlichen Infos. Vernetzt sie mit ehemaligen Projektteilnehmern aus demselben Land. Und trainiert sie in europäischem und griechischem Recht, bevor die Arbeit in Moria beginnt. „Die Freiwilligen begleiten die Asylsuchenden auf eine professionelle, das Berufsrecht achtende Weise und arbeiten gemäß hohen Standards – auch wenn die Situation im Camp nicht immer einfach ist.“

Ein Konzept setzt sich durch: Oxfam sichert Finanzierung 2019

Das hat auch der internationale Verbund von Hilfs- und Entwicklungsorganisationen Oxfam bemerkt. Der hatte das Aufnahmelager in Moria nach dem Inkrafttreten des EU-Türkei-Deals 2016 aus Protest verlassen. Als sich die Situation im Camp zunehmend verschlechterte, beschloss Oxfam, sich erneut zu engagieren und schickte Mitarbeiter nach Moria, um die Situation vor Ort auszuwerten. Diese identifizierten als höchsten Bedarf: das Gewährleisten von rechtlichem Beistand. Kontaktierten „European Lawyers for Lesvos“ und sagten Hilfsgelder in einer Höhe zu, die es dem Rechtsberatungsprojekt erlaubt, bis Ende 2019 weiter zu arbeiten.

Die Organisatoren hatten bereits zuvor überlegt, wie man das Entstandene in stabile und nachhaltige Strukturen überführen könnte. In Beratung mit der internationalen Anwaltskanzlei Dentons fand sich eine geeignete Form für das Projekt: eine gemeinnützige GmbH, die in Zukunft selbst Spenden generieren soll – ohne von Geldgebern inhaltlich abhängig zu sein. CCBE und DAV sind nun im Hintergrund als Gesellschafter aktiv. Für den Aufsichtsrat konnte DAV-Hauptgeschäftsführer Dr. Cord Brügmann den ehemaligen DAV-Präsident Prof. Dr. Wolfgang Ewer und Dr. Annette Mutschler, Mitglied des DAV-Vorstands, gewinnen. Der CCBE wird von Präsident Ruthen Gemmell und dem ehemaligen Präsidenten Michel Benichou vertreten. Den Vorsitz übernimmt der ehemalige Präsident des europäischen Gerichtshofs: Vassilios Skouris.

Dieses Gremium wird von nun an die politischen Entscheidungen für das Rechtsberatungsprojekt treffen. „Man könnte das Projekt in derselben Form auch auf weitere Hotspots in Griechenland oder Italien ausweiten, wenn die Anwaltschaft vor Ort das für sinnvoll hält“, sagt Worthington. Und „Was wäre, wenn eine Anwaltsorganisation auf uns zukommt, mit dem Bedarf an einem Rechtsberatungsprojekt für Obdachlose?“, fragt Brügmann.

Zunächst jedoch will sich „European Lawyers for Lesvos“ auf seine Kernfähigkeit konzentrieren: Erstberatung für Asylsuchende in Moria. Damit wird man ohnehin nie fertig.