Hänsel und Gretel waren in den Zeiten der Gebrüder Grimm noch mit Brotbröckchen unterwegs, um ihren Rückweg aus dem Wald zu sichern. In unseren modernen Zeiten wären diese von Geburt an technikaffinen Kinder mit einem Smartphone mit Navigations-App ausgerüstet. Und zu aller Vorsicht, da in freier Natur die Steckdosen eher knapp sind, hätte man auch eine Powerbank dabei. Die böse Hexe geht also heutzutage leer aus – es dürfte sich hier ohnehin um ein überkommenes Berufsbild handeln.
Was hat das nun mit der Tätigkeit des Anwalts zu tun? Eine ganze Menge! Auch sein Berufsbild hat sich stark verändert. Die juristischen Anforderungen haben sich beim Anwalt über die Jahre gar nicht allzu sehr verändert, immer noch sind Klagen einzureichen, Fristen zu wahren oder säumige Schuldner zur Zahlung aufzufordern – aber die Methoden und Arbeitsweisen sind ganz andere geworden. Der Anwalt, der heute noch mit analogen Brotbröckchen unterwegs ist, wird im digitalen Dickicht verloren gehen; man wird ihn irgendwann einfach nicht mehr wahrnehmen.
Anwalt und Fristen
1997 standen in Anwaltskanzleien üblicherweise Schreibmaschinen. Fristwahrende Schriftsätze ans Gericht hatte man bitte im Original per Post oder Boten ans Gericht zu schicken. Das war kein Problem, da die Entfernungen überschaubar waren. Man war ohnehin nur bei den örtlichen Gerichten zugelassen, nicht im ganzen Land. Faxe wurden von den Gerichten nicht als schriftformwahrend betrachtet, das Original musste auf jeden Fall noch folgen. Eine ganze Batterie von Schreibkräften tippte die anwaltlichen Diktate ab, Korrekturen wurden bei maschinengeschriebenen Schriftsätzen mit Tipp-Ex vorgenommen. Man wartete geduldig auf den Postboten und setzte sich unter Kollegen weiträumige Fristen. Es war halt alles etwas beschaulicher. Und heute? Was bitte ist Tipp-Ex? Gerichte wollen am liebsten gar kein Papier mehr annehmen, Mails an und von Kollegen und Mandanten sind absolut üblich. Das frisch eingeführte besondere elektronische Anwaltspostfach ermöglicht die gesicherte Online-Kommunikation zwischen Anwälten und Gerichten – hoffentlich. Der Postbote kann sich endlich auf die Pakete von Zalando konzentrieren. Und selbstverständlich verfasst der Anwalt Briefe und Schriftsätze selbst mit Diktiersoftware. Die Mandanten sitzen in der ganzen Welt verstreut, Telefonate in ferne Länder sind allenfalls wegen der Zeitverschiebung etwas lästig, technisch sind keine Grenzen gesetzt.
Der Anwalt kann, wenn er will, immer und von überall arbeiten. Seine Welt ist in den letzten Jahren erheblich größer geworden – im realen und im übertragenen Sinne – und eben auch viel digitaler. Das eine wäre ohne das andere gar nicht machbar! Andererseits ist der Anwalt aber auch gezwungen, jede Minute zu nutzen. Einfach auf dem Weg zu einem Auswärtstermin entspannt im ICE rumsitzen – geht leider nicht. Der Erledigungsdruck ist analog zur Digitalisierung immens gewachsen. Da alles so wahnsinnig schnell gehen kann, ist die Erwartungshaltung der Mandanten, Gegner und Gerichte entsprechend hoch, dass es dann eben auch bitte so schnell gehen soll. Die echte juristische Arbeit braucht dann dennoch ihre Zeit, auch wenn alle Informationsquellen online erreichbar sind. Und zu allem Überfluss muss sich der Anwalt dann auch noch Gedanken machen über Cyber-Crime, sicheren E-Mailverkehr und elektronische Fristenkalender, die sich selbst löschen. Leichter geworden ist der Job nicht, nur ganz anders. Ein Jurastudium und zwei Staatsexamen braucht es immer noch. Und das Abstraktionsprinzip gilt auch noch. Aber viel mehr haben der „Anwalt 1997“ und der „Anwalt 2017“ nicht gemeinsam. Der Prototyp „Anwalt 2017“ ist ein technikaffiner englischsprachiger 24/7-Hochleistungsallrounder. Das Modell „Anwalt 1997“ muss regelmäßig zum Tuning, um überhaupt arbeitsfähig zu bleiben. Sind wir gespannt, wie das Modell „Anwalt 2037“ konfiguriert sein wird.