Innovative Geschäftsmodelle können auch kleinere Kanzleien entwickeln. Für die Kanzlei Müggenborg in Aachen geht es mal um effizient abgewickeltes Massengeschäft, mal um hoch spezialisierte, interdisziplinäre Beratungsmandate. Die Basis bildet stets ein professioneller Auftritt im Internet. Der jüngste Coup ist ein Krisenteam für Betriebsstörungen mit gefährlichen Ausmaßen – bundesweit und im Wettbewerb mit Großkanzleien.
Der Zugang führt zwischen altem Baumbestand über eine Brücke und einen breiten Wassergraben. Dahinter leuchtet Schloss Rahe weiß in der Sonne. Prof. Dr. jur. Hans-Jürgen Müggenborg ist mit seiner Kanzlei vor ein paar Jahren in das repräsentative Schloss gezogen. Hier residierte 1818 der russische Zar Alexander nach der Niederlage Napoleons. Auch Kaiser Franz I. von Österreich bettete schon sein Haupt in den Gemächern, die nun diverse Unternehmen beherbergen. In diesem Ambiente entwirft der Umwelt- und Technikrechtler Müggenborg mit seinem Büroleiter, dem Betriebswirt und Informatiker Michael Schmitz, neue Geschäftsmodelle.
Müggenborg lehrt als Honorarprofessor an der RWTH Aachen, ansonsten könnte die Kanzlei auch sonstwo in Deutschland sitzen. „Ich habe kaum Mandanten hier aus Aachen“, sagt Müggenborg, Fachanwalt für Verwaltungsrecht. Der jüngste Streich der innovativen Kanzlei mit nur fünf festen Mitarbeitern und Honorarkräften sind „ Die Störfallexperten“. Ein achtköpfiges Krisen-Interventionsteam steht für Störfälle in der chemischen Industrie und anderen Risikobranchen parat. Es ist ein Pool von Experten aus Recht, Verfahrenstechnik, Anlagensicherheit und Psychologie für den Ernstfall, aber auch für Prävention und Beratung, damit es gar nicht erst zum Äußersten kommt.
Wenn es knallt, raucht, brennt, gefährliche Stoffe freigesetzt und womöglich sogar Menschen verletzt oder getötet werden, stehen die Störfallexperten in einer 24-Stunden-Rufbereitschaft parat. Im Expertenpool sind etwa Kapazitäten wie Prof. C. Jochum, ehemaliger Sicherheitschef der Hoechst AG und Ex-Vorsitzender der Störfall-Kommission. Sogar ein Experte für Chemiewaffen ist mit von der Partie, verrät Schmitz. Das Team ist handverlesen: „20 Jahre Berufserfahrung sind das Minimum“, um Aufnahme zu finden, sagt Müggenborg. „Das Konzept verbindet bewusst Juristen und Nicht-Juristen.“ Es geht um die Abwicklung von Störfällen, das Planungsrecht rund um Störfall-Anlagen mit riskanten Stoffen und das Krisen-Management bis hin zur Störfallübung. Der letzte große Störfall bei der BASF brachte Müggenborg auf die Idee. Unternehmen, die in der ersten Phase Fehler machen, etwa gravierende behördliche Anordnungen nicht rechtzeitig angreifen, können schnell in existenzielle Gefahr geraten. Es geht um große Risiken und um entsprechend hohe Beträge. Eine britische Studie beziffert die durchschnittlichen Kosten eines Störfalls auf 15 Millionen Euro.
Ein Unternehmen, das erst auf ihn zukam, als das Kind sprichwörtlich im Brunnen lag, also Fristen versäumt waren, kämpft auch noch Jahre später mit den Folgen. „Die haben schon das 36. Sachverständigen-Gutachten beibringen müssen“, sagt Müggenborg. Im Dezember 2016 ging die Webseite der Störfallexperten online, seither sind erste Mandate angebahnt. 95 Prozent der Arbeit des Professors ist Beratung. Es geht um die Seveso-IIIRichtlinie, angemessene Sicherheitsabstände und ganz konkrete Fragen wie die, ob der Betriebskindergarten tatsächlich direkt am Störfall-Lager gebaut werden sollte. „Vor Gericht sieht man mich selten. Wer braucht eine Entscheidung in fünf Jahren? Das muss schneller gehen.“
Das Netzwerk der Störfallexperten sei auch ein Mittel, um der geballten Kraft der Großkanzleien Paroli bieten zu könnensagt Müggenborg. „Wir haben nicht deren Overhead-Kosten und können daher geringere Stundensätze berechnen. Wir zielen auf den riesigen Mittelstand in Deutschland. Die Störfallbetriebe und deren Nachbarschaft. Die Großkonzerne brauchen unsere Expertise nicht, die haben sie intern.“ Das Störfallrecht, so hat es der Europäische Gerichtshof entschieden, muss inzwischen in jedem einzelnen Genehmigungsverfahren angewendet werden, was früher nicht der Fall war. „Das hat eine große Rechtsunsicherheit geschaffen, die Behörden wissen auch nicht, wie sie damit umgehen sollen – und verzögern die Genehmigungen.“ Die Expertise der Störfallexperten soll somit auch helfen, den dadurch entstandenen und auf 25 bis 30 Milliarden Euro geschätzten Investitionsstau in Deutschland abzubauen. Ein Aspekt, der die Nachfrage nach dem Expertenteam weiter erhöhen dürfte, ist die Gefahr durch Terroristen. Die Störfallverordnung nennt das „Abwehr von Eingriffen Unbefugter“.
Da müssen die Unternehmen Vorsorge treffen, besonders gegen Innentäter.
Geschäftsfeld Immobilien-Darlehen
Der erste Erfolg der Zusammenarbeit von Schmitz und Müggenborg wurde im Jahr 2014 auf einem ganz anderen Rechtsgebiet auf den Markt gebracht. Die Idee war das Gegenteil zu denStörfallexperten: Massengeschäft statt hochkomplexerhochkomplexer Mandate. Der Widerruf von Immobilien-Darlehen wegen fehlerhafter Klauseln wurde zum neuen Tummelplatz (www.widerruf-immobiliendarlehen.de) für den Umwelt- und Technikrechtler. „Über das Internet Mandanten zu akquirieren, war auch für mich neu – bis ich Herrn Schmitz kennengelernt habe. Dass es so einen Sog entwickelt, hätte ich auch nicht geglaubt. Das ist ungeheuer wirkungsvoll. Das musste ich auch erst lernen. Ich komme ja aus klassischen Kanzleien, habe sehr viel veröffentlicht, Kommentare herausgegeben, Vorträge gehalten – habe mir so einen Namen gemacht. Aber das hier geht viel schneller. Zeitweise mussten wir die Google-Werbung abschalten, weil wir so viele Anfragen bekamen, dass wir die alle gar nicht mehr bewältigen konnten.“
In einem Jahr kamen 4.000 Mandate herein. „Wir haben eineeigene Datenbank entwickelt mit den rund 1.000 einschlägigen Gerichtsurteilen und einem Klage-Generator, um unsere Effizienz zu steigern. Die insgesamt 47 Fehler in Widerrufsbelehrungen von Immobilien-Darlehen wurden mit den passenden Textbausteinen hinterlegt, um sie durch eine rasch erzeugte Klageschrift anzugreifen. „Das hat unsere Produktivität vervierfacht. Dafür konnten wir auch höhere Gehälter zahlen, denn gute Leute zu bekommen, ist das größte Problem“, berichtet Schmitz. Das Geschäft mit den Immobilien-Darlehen war allerdings rasch vorbei, weil der Gesetzgeber auf Druck der Banken das Recht geändert hat. „Das läuft jetzt aus, aber wir betreuen immer noch zahlreiche Mandate – eine Weile trägt das noch“, sagt Müggenborg. Google hat sich eine goldene Nase an den Aachenern verdient. „Denen haben wir bis zu 16.000 Euro im Monat gezahlt. Gelohnt hat es sich natürlich trotzdem.“ Schnell und dann mit aller Kraft auf ein neues Thema aufspringen, das sei in Zeiten der Digitalisierung die notwendige Strategie für Anwälte. „Bei den VW-Rückrufen haben wir zum Beispiel auch überlegt, ob wir da einsteigen, es aber schließlich verworfen, um uns nicht zu verzetteln.“ Ein paar andere Ideen sind dafür noch auf Lager, aber nichts, worüber Schmitz und Müggenborg jetzt schon sprechen würden. „Wir haben noch einige Ideen, nur nicht genug Zeit, 80 bis 90-Stunden-Wochen sind die Regel – weil es so gut läuft.“