Das Verbot widerstreitende Interessen wahrzunehmen gehört zu den Grundpflichten eines jeden Anwalts und jeder Anwältin (§ 43 Abs. 4 BRAO). Schneller als gedacht, kann ein Anwalt oder eine Anwältin in Situationen geraten, wo er oder sie plötzlich auch die Interessen der Gegenseite vertritt. Das kann nicht nur gravierende berufsrechtliche Folgen nach sich ziehen, sondern auch ein Strafverfahren wegen Parteiverrats. Mal abgesehen davon, dass sämtliche Mandate niederzulegen sind. Aufgrund der Nichtigkeit des Anwaltsvertrages gehen dem Anwalt dann auch seine Gebührenansprüche verloren. Ein „heißes“ Thema also, wie auch die überbuchte Jahrestagung des Instituts für Anwaltsrecht an der Universität zu Köln am 24. November 2017 zeigte.
Die Krux ist, dass die Frage, wann ein strafbarer Parteiverrat oder eine berufsrechtlich unzulässige Interessenkollision gegeben ist, oftmals schwierig zu beantworten ist. Um hier Licht ins Dunkel zu bringen, widmete sich die Jahrestagung des Instituts für Anwaltsrecht Köln einen ganzen Tag lang der Interessenkollision. Im Fokus stand aber nicht nur die Strafnorm des Parteiverrats (§ 356 StGB) und das Verbot der Wahrnehmung widerstreitender Interessen (§ 43a Abs. 3 BRAO in Verbindung mit § 3 BORA), sondern die Interessenkollision im weitesten Sinne, also auch wirtschaftliche oder persönliche Interessenkonflikte. Damit ging es auch um Fragen der Anwaltsethik oder Berufsethik. Die Tagung war auch in diesem Jahr wieder vom Anwaltsblatt unterstützt worden.
Keine Interessenkonflikte: Grundbaustein der Anwaltschaft
Das Verbot widerstreitende Interessen wahrzunehmen sei ein Grundbaustein für die freie Advokatur in Deutschland, so der Moderator der Veranstaltung Rechtsanwalt Prof. Dr. Bernd Hirtz (Vorsitzender des Vereins zur Förderung des Instituts für Anwaltsrecht) in seiner Begrüßungsrede. „Eine Grundpflicht, die grundsätzlich nicht verhandelbar sein sollte, wenn sich der Anwaltsberuf nicht ins Gewerbliche verabschieden wolle.“ Hirtz stellte zunächst das Grundgerüst der Interessenkollision vor und warf die Frage in den Raum, ob angesichts der geänderten Lebenswirklichkeit der deutschen Anwälte, das, was hierzu geregelt ist, überhaupt noch praktikabel sei. Die Regelungen hörten sich einfach an, seien in der Praxis aber ganz erheblich von Zweifelsfällen geprägt.
BRAO zur Interessenkollision: Viele Unklarheiten bei Sozietätswechsel
Dies verdeutlichte sehr anschaulich das sich anschließende Referat von Dr. Christian Deckenbrock (Akademischer Rat Institut für Arbeits- und Wirtschaftsrecht, Universität zu Köln). Er nahm die „Erstreckung von Tätigkeitsverboten in Berufsausübungs- und Bürogemeinschaften“ in den Blick. Bei seiner Analyse der verfassungsrechtlichen Ausgangslage stand die berühmte Sozietätswechslerentscheidung des Bundesverfassungsgerichts zunächst im Fokus (BVerfG, AnwBl 2003, 521). Sie führte 2006 zu einer Neuregelung der Sozietätserstreckung in § 3 BORA. Grundsätzlich sei die Regelung verfassungsgemäß, befand Deckenbrock. Allerdings wäre die Satzungsversammlung damals über das hinausgegangen, was das Bundesverfassungsgericht gefordert habe. Die Neuregelung sei deutlich liberaler als der entschiedene Fall. Er kritisierte zudem, dass das Bundesverfassungsgericht mit seiner Entscheidung den Gerichten einen Freibrief zur Ausfüllung der zu schlichten BRAO-Norm gegeben habe, Gesetzgeber zu spielen. Auf einen Einwand aus dem Auditorium, das verweigerte Einverständnis würde oftmals als taktisches Mittel eingesetzt, um Wechsel gezielt zu verhindern, räumte er ein, dass der Gesetzgeber hier sicherlich auch andere Korrektive einbringen könnte.
Während der einzelne Anwalt auch bei Einverständnis der Mandanten nicht im widerstreitenden Interesse tätig werden darf, dürfen die mit ihm in einer Berufs- oder Bürogemeinschaft verbundenen Anwälte bei einem ausdrücklichen Einverständnis der betroffenen Mandanten das widerstreitende Mandat annehmen (wenn Belange der Rechtspflege nicht entgegenstehen). Die einzelnen Voraussetzungen wurden von Deckenbrock näher beleuchtet. Es gebe noch viele ungeklärte Fragen hierzu. So sei nicht nur strittig, wann das Einverständnis einzuholen sei – nach Ansicht Deckenbrock grundsätzlich vor dem Tätigwerden; ein später eingeholtes Einverständnis könne den Berufsrechtsverstoß nicht nachträglich heilen –, sondern auch, wie mit einem nachträglichem Widerruf des Einverständnis umzugehen sei (kein freies Widerrufsrecht zum Schutz der Gegenseite so Deckenbrock). Als objektive Korrektur zum subjektiven Tatbestandsmerkmal des Einverständnisses dienten die Belange der Rechtspflege, die nicht entgegenstehen dürfen. Nur was falle darunter? Auch hier bestehe Diskussionsbedarf.
Beim Sozietätswechsel gelte es zwischen dem eines vorbefassten und dem eines nicht vorbefassten Anwalts zu unterscheiden. Bei dem mit dem widerstreitenden Mandat in der früheren Kanzlei vorbefassten Sozietätswechsler erstrecke sich das Tätigkeitsverbot auf die gesamte Sozietät. Die Erteilung eines Einzelmandats werde nach herrschender Auffassung nicht als Ausweg gesehen, das Verbot erstrecke sich auf alle, so Deckenbrock.
Und wie sieht es beim nicht vorbefassten Sozietätswechsler aus? Er dürfe nicht in das Kollisionsmandat eingebunden werden. Nach einer Auffassung werde auch hier die aufnehmende Sozietät infiziert. Das sehe er jedoch anders, stellte Deckenbrock dar und verwies auf die Entscheidung des Bayerischen Anwaltsgerichtshofs (AGH München, AnwBl 2012, 655). Die Gefahren für den Mandanten seien aufgrund der fehlenden Vorbefassung deutlich herabgesetzt. Die Gegenauffassung berücksichtige nicht ausreichend Art. 12 GG und würde zu einer lawinenartigen Vervielfachung der Tätigkeitsverbote führen.
Als weitere Problemfelder markierte Deckenbrock die aus seiner Sicht fragwürdige Erstreckung des Tätigkeitsverbots auch auf Bürogemeinschaften und die Sozietätsklausel in § 45 Abs. 3 BRAO. Hier tauche die Bürogemeinschaft gleich gar nicht auf und auch nicht die Möglichkeit eines Einverständnisses. Deckenbrock plädierte für eine einschränkende Auslegung des Absatzes 3. Er drückte zudem sein Bedauern aus, dass die bis vor kurzem beim Bundesverfassungsgericht anhängige Verfassungsbeschwerde zu der Frage, ob ein Tätigkeitsverbot bei nichtanwaltlicher Vorbefassung auch dann bestehe, wenn gar keine konkrete Gefahr der Interessenkollision gegeben ist sei, infolge des Tods des Beschwerdeführers ungeklärt bleibe.
Deckenbrock mahnte aber nicht nur hier ein Tätigwerden des Gesetzgebers an. Er konstatierte eine fehlende Harmonisierung bei der Sozietätserstreckung der Tätigkeitsverbote und sprach sich in seinem Fazit für eine umfassende Reform der anwaltlichen Tätigkeitsverbote im Bereich der Interessenkollisionen aus. Das „Chaos“ bei den einzelnen Regelungen zu Interessenkonflikten müsse endlich beseitigt werden.
Kühne Ideen
Die strafrechtlichen und strafprozessualen Probleme von Interessenkollisionen nahm Rechtsanwältin Dr. Simone Kämpfer (TDWE Rechtsanwälte) in ihrem Referat in den Blick. Sie berichtete, dass 2013 lediglich 22 Verfahren wegen Parteiverrats geführt worden seien. Nur sechs hätten zu einer Verurteilung geführt. Nicht weil Parteiverrat so gut wie nicht in der Anwaltspraxis vorkäme, sondern weil das Thema nach wie vor mit spitzen Fingern angefasst werde. „Wo kein Kläger, dort kein Richter“, so Kämpfer. Ihr Eindruck sei aber, dass sich das langsam ändere.
Kämpfer stellte zunächst den Regelungsgehalt des § 356 StGB ausführlich vor. Auch hier zeigten sich bei den einzelnen Tatbestandsmerkmalen gewisse Unschärfen und Unklarheiten. Viele Begriffe seien hoch umstritten. Insbesondere bei der „pflichtwidrigen Dienstleistung“ als zentrales Tatbestandsmerkmal entzündeten sich die Probleme. Hier konnte sie nicht nur den aktuellen Cum-Ex-Skandal anführen sondern dies auch anhand weiterer Beispielsfälle aus der Praxis anschaulich belegen. Die strafgerichtliche Rechtsprechung sei ausgesprochen uneinheitlich, beklagte Kämpfer. Sie empfinde die Regelung des § 356 StGB zudem als anmaßend, da sie sich über die Interessen der Parteien hinwegsetze. Sie wolle ihren Vortag daher auch dazu nutzen, „kühne Ideen“ einzubringen und fordere, die Interessen und den Willen des Mandanten stärker in den Mittelpunkt zu stellen. Für mehr Rechtsklarheit schlage sie zudem die Schaffung von Clearingstellen bei den Rechtsanwaltskammern vor.
Aber auch die strafprozessuale Seite kam in Kämpfers Referat nicht zu kurz. Sie widmete sich in einem zweiten Teil dem in § 146 StPO geregelten Verbot der Mehrfachverteidigung.
Interessenkonflikte: Rechtsanwaltskammern als Berufspolizei und Berater
Die Interessenkollision ist ein Dauerbrenner-Thema. Rechtsanwalt Dr. Ulrich Wessels (Präsident der Rechtsanwaltskammer Hamm und Vizepräsident der Bundesrechtsanwaltskammer) berichtete in seinem Vortrag „Praxisprobleme der Interessenkollision: Einblick in den Kammeralltag“ von zahlreichen Anfragen hierzu. Er betonte, dass die Kammern hier aber nicht kämpferisch unterwegs seien, sondern sich über jede Anfrage freuten. Problematisch sei, dass die Kammern in der Regel nur einen kleinen Sachverhaltsausschnitt präsentiert bekämen und anhand dessen eine Beurteilung vornehmen sollen. Oftmals ginge die Erwartungshaltung des Anfragenden auch dahin einen „Freibrief“ für das Vorgehen zu erhalten. Das gebe es aber nicht, betonte Wessels. Angesichts der vielen strittigen Punkte bei der Interessenkollision sei es schwierig auf die Anfragen so zu reagieren, dass der Kollege oder die Kollegin eine verlässliche Antwort erhalte. Wessels schilderte anhand zahlreicher Beispielsfälle welche Praxisfragen die Anwälte umtrieben. Neben diversen Konstellationen im Familien-, Erb- und Gesellschaftsrecht befasste er sich auch mit dem Klassiker einvernehmliche Scheidung.
Letztlich sollte immer der berufsrechtlich sicherste Weg eingeschlagen werden, mahnte Wessels eindringlich. Dies diene dem Vertrauensverhältnis zum Mandanten. Konfrontative Situationen gelte es zu vermeiden. Die Aufgabe der Rechtsanwaltskammern sehe er darin, den Kollegen deutlich zu machen, wie wesentlich die core values gerade bei den Interessenkonflikten seien und dazu beitrügen, dass eine effektive Rechtsverfolgung möglich sei. Diese Aufgabe gelinge den Kammern, wenn sie den Zwiespalt zwischen „Berufspolizei“ und Beratung auffangen und positiv umsetzen könnten.
BRAO-Vorschriften zur Interessenkollision: Völlig missglückt
Vom Kammeralltag zurück zu den Grundfragen bei der Interessenkollision ging es in dem Vortrag von Prof. Dr. Martin Henssler (Direktor Institut für Anwaltsrecht, Universität zu Köln). Dem Thema näherte er sich nicht nur theoretischer Natur, sondern auch aus Sicht der Praxis. Hier nahm er kein Blatt vor den Mund: Die rechtliche Regulierung der Interessenkollision sei „sehr unstrukturiert und inkohärent“. Hierzu verwies er nicht nur auf das völlig ungeklärte Verhältnis von § 43a Abs. 4 BRAO und § 45 BRAO. Auch beim Rechtsschutz gegen Belehrungen und Rügen von Anwälten und anwaltsgerichtlichen Maßnahmen gegen Anwälte sei das Berufsrecht nicht stimmig. Bei sämtlichen zentralen Tatbestandsmerkmalen gebe es zu klärende Fragen, da diese durchweg unpräzise seien. Nicht nur der Gesetzgeber, auch die Rechtsprechung bekam ihr Fett weg. Er kritisierte den Zick-Zack-Kurs des Bundesgerichtshofs. „Dieser weigere sich seit Jahrzehnten, klare Aussagen in zentralen Punkten zu treffen. Erst recht untragbar sei aber, dass er sie ständig ändere.“ Zentraler Kritikpunkt war die Frage, ob die Interessenkollision objektiv oder subjektiv aus Sicht Mandanten bestimmt wird. Zuletzt hatte der IX. Zivilsenat des BGH sich für die objektive Lösung entschieden, gleichwohl subjektive Elemente berücksichtigt. Als weitere ungelöste Problemfelder markierte er die Vertretung mehrerer Gesamtschuldner, die doppelte Treuhand (Tätigwerden für mehrere Mandanten) oder doppelnützige Treuhand (Tätigwerden für einen Mandanten mit Wirkung für einen Dritten) sowie auch die Vorbefassung als Referendar/Wissenschaftlicher Mitarbeiter.
Martin Henssler kritisiert Rechtsprechung zu Interessenkollisionen
Sein Urteil war eindeutig: Es herrsche hohe Rechtsunsicherheit bei der Interessenkollision. Die Rechtsprechung habe weitgehend versagt. Henssler beklagte die unbefriedigende Einzelfalljudikatur bei gleichzeitiger Scheu vor Festlegung allgemeiner Leitlinien. Er plädierte abschließend dafür, dass zumindest in Grenzfällen die Zustimmung der Parteien erheblich sein und die zivilrechtlichen Folgen ausschließen solle.
Interessenkollisionen in Wirtschaftskanzleien
Und wie sieht es in den großen Wirtschaftskanzleien aus? Rechtsanwalt Dr. Marcel Klugmann (CMS Hasche Sigle), der für die 650 Berufsträger in seiner Kanzlei Ansprechpartner für das Berufsrecht ist, gab hierauf Antwort. Die Ausgangslage sei naturgemäß eine andere als in kleineren Kanzleien. Es müsse präventiv viel mehr getan werden, um Interessenkollisionen zu vermeiden. Angesichts täglich neu angelegter 50 bis 70 Mandate fänden umfangreiche Kollisionsprüfungen im Vorfeld statt. Klugmann zeigte mehrere Fallgruppen mit ihren Problemen auf. Er ging dabei nicht nur auf Schiedsrichtertätigkeiten ein, sondern behandelte in seinem Referat auch die wirtschaftlichen Interessenkonflikte (die in der Praxis wie ein rechtlicher Interessenkonflikt behandelt werden würden; Annahme des Zweitmandats nur mit Zustimmung des Erstmandanten), den Fall der späteren Beratung eines Erwerbers des Erstmandanten, Exklusivitätsvereinbarungen (Verpflichtung gegenüber den Mandanten während der Laufzeit des Mandats nicht für den Wettbewerber tätig zu werden) sowie sogenannte Secondments (befristete Abordnungen von Kanzleianwälten in die Rechtsabteilungen von Mandanten). Einer Lösung in der Praxis harre die problematische Fallgruppe der sozietätswechselnden Referendare und wissenschaftlicher Mitarbeiter. Der Schutzzweck von § 3 Abs. 3 BORA spräche hier für eine Infizierung der aufnehmenden Kanzlei. Der Wortlaut der Norm allerdings dagegen. Die Konsequenz der rechtlichen Unsicherheit schilderte er eindringlich: Seine Kanzlei habe mehrere junge Anwälte nicht eingestellt, weil ihr das Risiko zu hoch gewesen sei.
Interessenkollisionen bei Syndikusrechtsanwälten
Gelten die Regelungen zur Interessenkollision auch für Syndikusrechtsanwälte? Ja, legte Rechtsanwalt Martin W. Huff (Rechtsanwaltskammer Köln) in seinem Referat „Interessenkollisionen und Syndikusrechtsanwälte: §§ 43a Abs. 4, 45 BRAO“ dar. Und zwar für die gesamte Anwaltstätigkeit, auch bei Doppelzulassung als Syndikusrechtsanwalt und niedergelassener Anwalt. Huff zeigte auf, wo die Problemfelder der Vorbefassung bei einer früheren Tätigkeit als Anwalt, als Syndikus ohne Zulassung im Unternehmen und als Syndikusrechtsanwalt bei anderen Arbeitgebern liegen. Er ging zudem auf die Problematik in § 3 BORA ein. Die Regelung in § 45 Abs. 1 BRAO halte er für „unglücklich“.
Same same but different: USA sowie England und Wales
Einen Blick ins Ausland warf Prof. Dr. Matthias Kilian (Direktor Soldan Institut) unter der Überschrift „Conflicts of Interest und Berufsrecht – Lösungen des Auslands“. Das Gebot der Vermeidung von Interessenkonflikten sei ein weltweit akzeptierter Standard und zähle zu einer der drei weltweit anerkannten core values. Über das „ob“ bestehe Einigkeit, das sehe bei dem „wie“ schon ganz anders aus, so Kilian. Er erläuterte zunächst die Rechtslage in England und Wales und stellte sie der deutschen Rechtslage gegenüber. Ein wesentlicher Unterschied sei die Unterscheidung in „own interest conflicts“ und „client conflicts“. Auch bestünde kein absolutes Tätigkeitsverbot. Das englische Recht knüpfe zudem nicht an „dieselbe Angelegenheit“ an wie im deutschen Recht und sei daher an dieser Stelle strenger.
Nach amerikanischem Verständnis stehe der Schutz der Loyalität des Anwalts gegenüber dem Mandanten im Vordergrund. Ein Tätigkeitsverbot könne daher auch bei vollständig unabhängigen Angelegenheiten auftreten. Auch in den USA gebe es die im deutschen Recht unbekannte Unterscheidung in „own interest conflicts“ und „client conflicts“. Der Anwalt dürfe zudem keine Geschäfts- oder private Beziehungen mit dem Mandanten eingehen.
In seinem Resümee hielt Kilian daher fest: „Same same but different“. Die Rechtsordnungen gingen von einer identischen Ausgangslage aus. Das deutsche Berufsrecht sei jedoch auf das Erfordernis der Interessenkollision in derselben Angelegenheit ausgerichtet. Das sehe in England/Wales und den USA anders aus. Hier werde die Interessenkollision weiter ausgelegt. Das ausländische Recht ziehe zudem Probleme in den Bereich der Interessenkollision ein, die im deutschen Recht nicht vom Tatbestand umfasst wären und andere Bereiche beträfen (Unabhängigkeit, Verschwiegenheit).
Interessenkonflikte vermeiden: Auch eine Frage der Ethik
Dass Interessenkonflikte auch (nur) ein berufsethisches Problem sein können, zeigte Rechtsanwalt Dr. Jörg Meister (Vorsitzender des DAV-Ausschusses Berufsethik) auf. „Die Berufsethik sei ein weites Feld.“ Er nahm zunächst eine Abgrenzung zwischen Berufsethik und Berufsrecht vor und ging dabei auf die verschiedenen Begriffe ein („gebietende“ Moral, „über Gebote räsonierende“ Ethik, „die sittliche Grundhaltung der Berufsträger meinende“ Berufsethik). Dem Berufsrechtler und dem Berufsethiker sei gemeinsam, dass es beiden um die gute Berufsausübung gehe. Ihn treibe um, nach welchen Maßstäben der einzelne Berufsträger eigentlich seine Entscheidungen treffen solle. Das Berufsrecht sei das Gerüst auf dem alle stünden. „Aber wann sei es schlicht unanständig, ein bestimmtes Mandat zu übernehmen?“ Es sei daher wichtig, den Anwälten ein persönliches Koordinatensystem zu vermitteln „zur Erlangung von Reflexionsfähigkeit in komplexen Mandaten“. Hier betonte Meister die große Bedeutung eines ständigen Diskurses zu ethischen Fragen.
Unzumutbare Rechtslage: Forderungen aus der Anwaltspraxis
In der anschließenden Podiumsdiskussion (Teilnehmer: Rechtsanwältin Dr. Simone Kämpfer, Rechtsanwältin und Notarin Edith Kindermann, Vizepräsidentin DAV, Rechtsanwalt Bernd Klassen, Vizepräsident der RAK Köln und Rechtsanwalt Dr. Jörg Meister; Moderation: Rechtsanwalt Prof. Dr. Bernd Hirtz) wurde von allen die Inkohärenz der Vorschriften zur Interessenkollision beklagt. Der einhellige Befund lautete: Die Anwaltschaft sei mit dem kodifizierten Recht nicht gut aufgestellt. Die unklare Rechtslage wurde als unzumutbar empfunden. Es bestünde dringender Änderungsbedarf. Dabei dürfe auch nicht die europäische Dimension außer Acht gelassen werden. Sozietätserstreckungen könne es nur in einheitlicher Form geben. Der Wissenstransfer durch Nicht-Anwälte müsse geregelt werden.
Kontroverse Auffassungen gab es nicht nur zu dem Vorschlag nach Schaffung einer Clearingstelle bei den Anwaltskammern und der Notwendigkeit ethischer Leitlinien. Auch bei der Bestimmung des Interessenwiderstreits (objektive oder subjektive Betrachtungsweise) bestanden auf dem Podium unterschiedliche Ansichten.
Die Fachtagung hatte sich das Ziel gesetzt, einzelne Facetten der Interessenkollision näher zu beleuchten. Doch die sechste Jahrestagung zeigte wieder einmal dem Gesetzgeber (und der Rechtsprechung) auf, wo im anwaltlichen Berufsrecht Handlungsbedarf besteht. Dazu gehört auch, dass der juristische Nachwuchs die Grundlagen des Berufsrechts in der Ausbildung nicht kennen lernt. Auf dem Podium wurde vor allem von Meister dafür geworben, dass das Anwaltsrecht bereits Lehrstoff in der universitären Ausbildung sein müsse.
Die Referate der Jahrestagung werden im Anwaltsblatt veröffentlicht.