Auf der einen Seite stehen die Reformer, die die Anwaltschaft von ihren berufsrechtlichen Fesseln befreien wollen, auf der anderen Seite die Bewahrer, die den klassischen freien Beruf beschwören. Das diesjährige, wieder vom Anwaltsblatt unterstützte Symposium des Instituts für Anwaltsrecht an der Universität zu Köln stand dabei ganz im Zeichen des anstehenden Urteils des BGH zu wenigermiete.de (der BGH hat das Geschäftsmodell abgesegnet und Legal Tech beim Inkasso jetzt erlaubt). Treiber für die Diskussion sei die Digitalisierung durch Legal Tech-Angebote, sagte die DAV-Präsidentin Edith Kindermann zum Auftakt der Tagung. Sie warnte davor, den Rechtsdienstleistungsmarkt zu liberalisieren. Denn wenn die Anwaltschaft Mandate verliere, gebe es keinen Grund mehr für das Sonderopfer der Anwaltschaft, dass sie mit Beratungshilfe und Prozesskostenhilfe erbringe. Am Ende gehe es um die Frage, wie der Zugang zum Recht gewährt werde.
Martin Henssler: Legal Tech ist Anwaltssache
Auf den Markt drängen die unterschiedlichsten anwaltlichen und nicht-anwaltlichen Legal Tech-Modelle. Doch welche Folgen hat die Digitalisierung für die freien Berufe? Und muss hierauf regulatorisch reagiert werden? Oder erfordert die Digitalisierung eine Deregulierung berufsrechtlicher Regelungen? Mit diesen grundlegenden Fragen befasste sich Prof. Dr. Martin Henssler (Direktor des Kölner Instituts für Anwaltsrecht) in seinem Vortrag. Zunächst konstatierte er: Digitalisierung stärke die Effektivität freiberuflicher Dienstleistungen. Der Vorteil liege nicht nur in der Entlastungsfunktion, sondern auch in den neuen Marktchancen, die mit dem Entstehen neuer Dienstleistungsangebote einhergingen. Aber auch die Risiken machte er deutlich. Die höchstpersönliche Leistungserbringung trete immer mehr in den Hintergrund. Eine schleichende Aushöhlung der Freiberuflichkeit sei zu befürchten. Der Anteil gewerblicher Elemente an der Gesamtleistung des Freiberuflers wachse. Durch die gewerblichen Anbieter steige der Wettbewerbsdruck.
Wir sollten die Herausforderungen annehmen, mahnte Henssler. Eine Gesamtstrategie aller freien Berufe sei erforderlich. Henssler sieht hier die Verbände und den Gesetzgeber in der Pflicht. Sie müssten dafür sorgen, dass die Chancengleichheit unter den Freiberuflern gewahrt bleibe und das Berufsrecht nicht unterlaufen werde. Kleinere Kanzleien dürften beim Zugang zu neuen Chancen nicht benachteiligt werden. Er betonte, Legal Tech gehöre in erster Linie in die Hand von Anwälten.
Henssler beließ es aber nicht bei einem Appell, sondern machte ganz konkrete Vorschläge. Er sprach sich zum einen für eine Öffnung des Gesellschafterkreises für IT-Experten aus. Auch Wagnis-Kapital würde er in begrenztem Umfang zulassen. Eine gewisse Liberalisierung beim Verbot von Erfolgshonoraren halte er für denkbar. Bei der Übernahme des Prozesskostenrisikos durch Anwälte war er dagegen zurückhaltender. Zu seinen Lösungsansätzen verwies er auf den von ihm erarbeiteten Regelungsvorschlag zum anwaltlichen Berufsrecht (DAV-Diskussionsvorschlag, AnwBl Online 2018, 564).
Kritische Worte fand Henssler zum Geschäftsmodell des Legal Tech-Inkassos. Hier werde versucht, über ein registriertes Inkassounternehmen ein Geschäftsmodell zu etablieren, das Anwälten verboten sei. Dies bezeichnete er klipp und klar als „klassisches Umgehungsmodell“. Das anwaltliche Berufsrecht solle gemieden werden. Die Inkassoerlaubnis dürfe nicht zweckentfremdet werden, um im Anwaltsprozess wesentliche Vorschriften im Berufsrecht zu unterlaufen. Sein Fazit: Legal Tech Inkasso ist Nichtanwälten verboten.
Vertragsgeneratoren – Kein Maßanzug, sondern Anzug von der Stange
Dr. Christian Deckenbrock (Akademischer Rat, Institut für Anwaltsrecht, Universität zu Köln) ging in seinem Referat der Frage nach, wann Legal Tech zu einer Rechtsdienstleistung werde. Es bestehe die Schwierigkeit, dass das Rechtsdienstleistungsgesetz (RDG) auf Legal Tech-Angebote angewendet werden müsste, obwohl der Gesetzgeber damals Legal Tech noch gar nicht kannte. Zwar sei das RDG entwicklungsoffen, aber: „Macht die Maschine dasselbe wie ein Mensch?“ Dies führe zu einer Reihe von Auslegungsproblemen wie Deckenbrock am Beispiel des kürzlich vom Landgericht Köln ergangenen Urteils zum Vertragsgenerator Smartlaw deutlich machte. Er war erstaunt, dass 2019 Prozesse geführt würden, obwohl es solche Vertragsgeneratoren doch schon einige Jahre gäbe. Das Landgericht Köln sah in Smartlaw einen Verstoß gegen das RDG. Deckenbrock widersprach. Er hielt Vertragsgeneratoren für zulässig. Es scheitere schon an der ersten Hürde „Tätigkeit“ im Sinne von § 2 Abs. 1 RDG. Das RDG gehe von einem menschlichen Dienstleister aus. Unabhängig von den technischen Mitteln der Erbringung sei also eine Interaktion des Rechtsuchenden mit dem (menschlichen) Dienstleister notwendig. Dies sei bei Vertragsgeneratoren aber nicht der Fall, da die Auswahl der Vertragsbestandteile nicht durch einen Menschen erfolge. Anders als das LG Köln sehe er auch keinen Subsumtionsvorgang („rechtliche Prüfung des Einzelfalls“, § 2 Abs. 2 RDG). Es würden lediglich auf Basis von Nutzereingaben mithilfe von Entscheidungsbäumen Textbausteine miteinander so kombiniert, dass ein Schriftstück entstehe. Der Mensch könne über das Vorprogrammierte hinausgehen, die Maschine nicht – und zwar unabhängig von der Anzahl der gestellten Fragen, rückte Deckenbrock ins Bewusstsein.
Aber nicht nur Smartlaw, sondern auch verschiedene andere Online-Plattformen von geblitzt.de bis Flightright unterzog er einer Prüfung im Hinblick auf das RDG. Auch das heftig umstrittene Geschäftsmodell von wenigermiete.de, das der Bundesgerichtshof für zulässig hält, durfte natürlich nicht fehlen. Der dort angebotene Mietpreisrechner allein sei keine Rechtsdienstleistung. Hier gehe es mehr um die Grenzen, die aus einer Inkassoerlaubnis folgten, so Deckenbrock.
Flucht in die Inkassolizenz – was darf Inkasso?
Legal Tech-Anbieter als Inkassounternehmen standen im Focus des Referats von Rechtsanwalt Dr. Frank Remmertz (Vorstandsmitglied der Rechtsanwaltskammer München). Gleich zu Beginn macht er deutlich, dass das Inkasso hier quasi auf den Kopf gestellt würde, da man es mit einem atypischen Inkassomodell zu tun habe. Es würden massenhaft Verbraucherforderungen eingesammelt, um diese per Digitalisierung geltend zu machen. Für diese Geschäftsmodelle gebe es keinen anderen Erlaubnistatbestand als eine Inkassolizenz (§ 2 Abs. 2 RDG). Remmertz nannte das die „Flucht in die Inkassolizenz“. Doch was ist davon umfasst? Wirklich alle Täitgkeiten, die auf die Geltendmachung der (einzuziehenden) Forderung gerichtet sind? Reicht es aus, wenn die Forderung erst später entsteht? Muss es sich zwingend um eine Geldforderung handeln. Remmertz ging im Einzelnen diesen Fragen nach. Für ihn müsse der Forderungseinzug der Schwerpunkt der Tätigkeit sein. Eine rechtliche Beratung dürfe nur eine dienende Funktion bei Forderungseinzug haben. Andernfalls liege keine Inkasso-, sondern eine Anwaltstätigkeit vor. Die Geltendmachung anderweitiger Ansprüche als Geldforderungen sei nicht von der Inkassobefugnis gedeckt. Insbesondere bestehe keine Befugnis zur Abwehr von Ansprüchen.
Neben der problematischen Inkassolizenz sprach Remmertz weitere Problemfelder an: Die Kombination von Legal Tech-Inkasso mit Prozessfinanzierung führe zu einer Umgehung anwaltlicher Berufspflichten. Für die Anwaltschaft entstünden so Wettbewerbsnachteile zu anderen Anbietern. Aber ob es der Anwaltschaft nun passe oder nicht, Inkassodienstleister dürften Erfolgshonorare vereinbaren, so Remmertz. Aus § 4 Abs. 1 und 2 RDG ergebe sich kein entsprechendes Verbot. Hingegen sah er eine klare Interessenkollision zwischen Inkasso und Prozessfinanzierung, das seiner Auffassung nach bereits ein Zulassungshindernis nach § 12 Abs. 1 Satz 1 RDG begründe.
Welche Folgen hat nun ein RDG-Verstoß für Inkassodienstleister? Also wenn diese ihre Kompetenzen überschreiten? Remmertz geht ganz klar von einer Nichtigkeit nach §§ 3 RDG, 134 BGB aus. Für ihn gebe es keinen Unterschied in den Folgen bei einem Verstoß gegen eine fehlende Registrierung oder einem Überschreiten der Befugnis (so jetzt auch der BGH in seinem Urteil vom 27. November 2019 zu wenigermiete.de).
Auch Remmertz mahnte dringenden Handlungsbedarf des Gesetzgebers an. Die Anwaltschaft sei aufgerufen, sich dringend mit dem Thema auseinanderzusetzten, denn der Druck werde immer größer.
Das Provisionsverbot und das Verbot der Prozessfinanzierung im Verfassungstest
Von der Vermittlung von Mandaten über verschiedenste Internetplattformen und Anwaltsvermittlungsdiensten profitieren viele Anwältinnen und Anwälte. Man zahlt an die Plattform einen Geldbetrag und erhält ein Mandat. Hiervon profitieren nicht nur Berufseinsteiger, sondern auch angehende Fachanwälte, die ihre Fälle zusammensammeln. Allerdings muss hier das berufsrechtliche Provisionsverbot beachtet werden (§ 49b Abs. 3 BRAO). Und ein Wettbewerbsnachteil für Anwältinnen und Anwälte ist, dass sie Prozesse nicht selbst finanzieren dürfen. Denn ihnen ist es untersagt, ihre Mandanten von den Kosten des Prozesses freizustellen (§ 49b Abs. 2 Satz 2 BRAO). Doch lässt sich beides im Hinblick auf Artikel 12 Abs. 1 GG noch halten?
Rechtsanwältin Dr. Anna-Katharina Pieronczyk (Mitglied im DAV-Verfassungsrechtsausschuss) unterzog beide Verbote einem Verfassungstest. Der Gesetzgeber bezweckt mit Beidem den Schutz des Mandanten und die anwaltliche Unabhängigkeit. Doch ist ein Vollverbot tatsächlich geeignet, diese legitimen Ziele zu erreichen? Das hinterfragte Pieronczyk sehr kritisch. Sie kam zu dem Ergebnis, dass im Hinblick auf das Provisionsverbot ein Eingriff wohl gerade noch gerechtfertigt sei.
Das Verbot der Prozessfinanzierung halte sie hingegen für verfassungswidrig. Werde die anwaltliche Unabhängigkeit denn wirklich schon gefährdet, wenn der Anwalt oder die Anwältin das wirtschaftliche Risiko für den Fall des Unterliegens trägt? Warum sei die Angst vor einem Eigeninteresse am Prozesserfolg so groß? Was macht denn den Unterschied zu einer Vertretung in eigener Sache aus? Anwältinnen und Anwälte hätten zudem immer auch wirtschaftliche Aspekte im Kopf, immerhin trügen sie das volle wirtschaftliche Risiko ihrer beruflichen Tätigkeit. Und sei es nicht zu begrüßenswert, wenn ein Anwalt oder eine Anwältin einen Fall weiterführt, obwohl der Mandant aus Angst vor dem Prozessrisiko schon längst ausgestiegen ist, um möglicherweise eine Grundsatzentscheidung herbeizuführen? Pieronczyk kam zu dem Ergebnis, dass Prozessfinanzierungsverbot zum Schutz der anwaltlichen Unabhängigkeit nicht geeignet sei. Nicht weniger kritisch fiel ihr Ergebnis bei der Prüfung aus, ob durch das Verbot der Rechtsschutz des Mandanten gefördert werde. Nein, im Gegenteil! Vielmehr werde das Kostenrisiko für den Mandanten im Unterliegensfall reduziert.
Ihr Fazit: Den Verfassungstest hat das Verbot der Prozessfinanzierung nicht bestanden. Das Provisionsverbot gerade so, es steht aber auf wackeligen Füßen.